Endokrine Disruptoren: Substanzen mit schädlichen Wirkungen auf das Hormonsystem

Montag, den 19. April 2010 um 20:57 Uhr Redaktion
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„Die Welt wird weiblicher“ titelte im vergangenen Jahr das Magazin der Süddeutschen Zeitung und fuhr fort „Und das ist keine gute Nachricht“. Es bezog sich auf Untersuchungen, nach denen Fortpflanzungs- und Entwicklungsstörungen vor allem bei Männern und männlichen Tieren zu beobachten sind. Als Ursache werden bestimmte Chemikalien vermutet, die das Hormonsystem beeinflussen können und die wir mit der Nahrung und über die Luft aufnehmen.

Solche sogenannten „endokrine Disruptoren“, stehen im Verdacht, die Entstehung bestimmter Tumore zu fördern, die Entwicklung des menschlichen Organismus zu stören oder die Fortpflanzungsfähigkeit zu mindern. In der Öffentlichkeit diskutierte Stoffe, die im Verdacht stehen endokrin zu wirken, sind Bisphenol A und bestimmte Weichmacher, die zur Herstellung von Kunststoffen eingesetzt werden. Doch nicht nur synthetisch hergestellte Chemikalien können das Hormonsystem beeinflussen, sondern auch bestimmte Pflanzeninhaltsstoffe, die Bestandteil unserer Nahrung sind. So enthält beispielsweise Soja sogenannte Isoflavone, die an den Rezeptor für das weibliche Sexualhormon Östrogen binden können. Solche Stoffe mit der Nahrung aufzunehmen ist jedoch nicht automatisch ein Gesundheitsrisiko. Bei den endokrinen Disruptoren handelt es sich nicht um eine einheitliche Stoffgruppe. Die einzelnen Stoffe können strukturell und mechanistisch sehr unterschiedlich sein. Sie müssen daher toxikologisch differenziert betrachtet werden, um ein gesundheitliches Risiko abzuschätzen.

Das Hormonsystem ist an der Steuerung nahezu aller Körperfunktionen beteiligt, etwa an der Energieproduktion und -nutzung, an der Blutdruckregulation und an der Regulation des Elektrolythaushalts. Reaktionen auf Notfallsituationen (Hunger, Stress, Infektionen) werden hormonell gesteuert, ebenso die Stimmung, das Verhalten, das Wachstum, die Entwicklung und die Fortpflanzung. Das Hormonsystem wird von zahlreichen inneren und äußeren Faktoren beeinflusst. Viele natürliche und synthetische Substanzen können darauf einwirken, wenn sie in den Körper gelangen. Kritische Dosen können so einerseits bestimmte hormonabhängige Körperfunktionen direkt stören. Manche Stoffe können auch das Hormonsystem während empfindlicher Entwicklungsphasen beeinflussen, zum Beispiel bei Ungeborenen während der Schwangerschaft, und so die Gesundheit dauerhaft schädigen. Solche synthetischen oder natürlichen Substanzen, die schädliche Wirkungen auf das Hormonsystem haben können, werden als endokrine Disruptoren bezeichnet.

Endokrine Disruptoren sind keine definierte Substanzgruppe. Dass sie auf das Hormonsystem wirken können, ist eine ihrer Eigenschaften. In ihren übrigen Eigenschaften können sie sich dagegen voneinander unterscheiden.

 

Zu potentiellen endokrinen Disruptoren gehören natürliche Bestandteile der Nahrung wie Phytohormone, zum Beispiel die in Soja vorkommenden Isoflavone, aber auch Umweltgifte wie PCB, Pestizide wie DDT, bestimmte Konservierungsmittel und Bestandteile von Druckfarben und UV-Lichtschutzsubstanzen, wie Benzophenon, Schwermetalle wie Cadmium und Weichmacher wie zum Beispiel einige Phthalsäureester.

Epidemiologische Studien zeigen eine Zunahme von Tumoren in Organen, die hormonell reguliert werden, zum Beispiel von Brust- und Prostatakrebs. Auch Beeinträchtigungen der männlichen Fortpflanzungsfähigkeit durch Hodenhochstand oder sinkende Spermienzahl werden zunehmend beobachtet. Sie werden in der Wissenschaft als mögliche Folge der Aufnahme endokrin wirksamer Substanzen aus der Umwelt und aus Lebensmitteln diskutiert, ein Kausalzusammenhang ist jedoch bislang nicht belegt.

Phytohormone - hormonell wirksame Substanzen in Pflanzen


Hormonell wirksame Substanzen können als natürliche Bestandteile in Pflanzen vorkommen. Ein Beispiel sind Isoflavone, die insbesondere in der Sojapflanze in hohen Mengen  vorkommen. Sie werden auch als Phytoöstrogene bezeichnet, da sie im menschlichen Organismus ähnlich wie das weibliche Sexualhormon Östrogen wirken können. Dabei binden sie an Zellrezeptoren wie die körpereigenen Hormone. Das kann unterschiedliche biologische Wirkungen im Körper zur Folge haben. Sie können zur Gesundheit beitragen, aber auch zum Risiko werden. In isolierter Form werden Isoflavon-Kapseln als Ersatz für die konventionelle Hormontherapie zur Behandlung von Wechseljahresbeschwerden bei Frauen wie Hitzewallungen und Nachtschweiß sowie von Osteoporose frei verkäuflich angeboten. Wissenschaftlich ist jedoch nicht eindeutig belegt, dass Isoflavone Wechseljahresbeschwerden tatsächlich lindern, vielmehr können sie dagegen sogar unerwünschte Wirkungen haben. So ist nicht auszuschließen, dass sie das Brustkrebsrisiko steigern können, da sie östrogen auf das Brustgewebe von Frauen in den Wechseljahren wirken.

Kontrovers diskutiert wird derzeit, ob die hormonelle Wirkung von Isoflavonen auf den menschlichen Orgsanismus gleichzusetzen ist, wenn Isoflavone mit Soja-basierter Nahrung aufgenommen werden, wie wenn sie als Nahrungsergänzungsmittel in isolierter Form aufgenommen werden. Eine hohe Dosis von isolierten Isoflavonen, insbesondere wenn sie über einen Zeitraum von mehreren Jahren eingenommen wird, könnte ein Gesundheitsrisiko darstellen.

Lebensmittelverpackungsmaterialien: Endokrine Disruptoren in Kunststoffen

Viele Lebensmittelverpackungen bestehen aus Kunststoff. Endokrin aktive Substanzen stammen entweder aus den Bausteinen (Monomere) oder aus den Zusatzstoffen (Additive) der Kunststoffe. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des BfR befassen sich mit der Frage, ob die chronische Aufnahme von diesen schwach hormonell wirksamen Substanzen aus Lebensmittelverpackungsmaterialien ein gesundheitliches Risiko für Verbraucherinnen und Verbraucher ist. Um dies bewerten zu können, braucht man wissenschaftliche Methoden. Bisher sind diese in ihrer Aussagekraft begrenzt: Sie erlauben einen Überblick über potenziell endokrin wirksame Substanzen in Materialien (Screening-Verfahren) und sie können die hormonartigen Wirkmechanismen einzelner Substanzen in vitro, das heißt im Reagenzglas, klären. Für eine wissenschaftliche Risikobewertung reicht dies nicht aus, weil häufig unklar ist, inwieweit sich solche Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen. Eine allgemein akzeptierte Vorgehensweise für den Nachweis von endokrinen Substanzeigenschaften existiert im Bereich der Lebensmittelbedarfsgegenstände bisher nicht. Daher erlauben Studien zu hormonartigen Wirkungen in der Regel keine gesundheitliche Bewertung, die über die bereits bestehenden Bewertungen auf der Grundlage von tierexperimentellen Daten zur (sub)chronischen Toxizität und/oder zur Reproduktionstoxikologie hinausgeht. Das BfR arbeitet an der Etablierung von aussagekräftigeren Screening-Verfahren, untersucht die Migration von endokrin wirksamen Substanzen aus Lebensmittelkontaktmaterialien und geht der Frage nach, wie solche Verbindungen den Stoffwechsel beeinflussen.

Bisphenol A


Bisphenol A (BPA) ist eine Industriechemikalie, die als Ausgangssubstanz für die Herstellung von Polycarbonat-Kunststoffen und Kunstharzen verwendet wird. Aus Polycarbonat werden zum Beispiel Babyfläschchen und Trinkbecher hergestellt und die Innenbeschichtung von Konservendosen. BPA gehört zu einer Gruppe von Substanzen, die ähnlich wie das weibliche Sexualhormon Östrogen wirken können. Im menschlichen Körper wird BPA schnell in ein Stoffwechselprodukt umgewandelt, das keine östrogene Wirkung mehr hat und über die Nieren ausgeschieden wird.

BPA kann in sehr geringen Mengen aus Innenbeschichtungen von Konservendosen und aus Polycarbonatbabyfläschchen freigesetzt werden und auf Lebensmittel übergehen (Migration). Nach den vorhandenen Migrationsdaten dieser Produkte nehmen Verbraucherinnen und Verbraucher, einschließlich Kinder, deutlich weniger auf als die tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (TDI: 0,05 Milligramm BPA pro Kilogramm Körpergewicht), die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) festgesetzt wurde. Auch die vom Umweltbundesamt (UBA) erhobenen Daten zur BPA-Konzentration im Urin von Kindern zeigen, dass der TDI-Wert für BPA sehr deutlich unterschritten wird. Nach sorgfältiger wissenschaftlicher Bewertung aller bisherigen Studien, insbesondere auch der Studien im Niedrigdosisbereich von Bisphenol A, kommen die EFSA wie auch das BfR zu dem Ergebnis, dass für Säuglinge und Kleinkinder kein gesundheitliches Risiko durch Bisphenol A besteht, wenn die Polycarbonatflaschen wie üblich verwendet werden.

Im September 2009 haben Umweltverbände in Deutschland und Österreich Schnuller auf BPA untersuchen lassen und unerwartet hohe Gehalte von BPA sowohl in den Kunststoffschilden der Schnuller als auch in den Saugteilen veröffentlicht. Diese Ergebnisse waren Anlass für intensive Untersuchungen von Babysaugern durch das BfR, die österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) und durch Labore der amtlichen Lebensmittelüberwachung in Deutschland. Das BfR hat Schnuller verschiedener Hersteller und Marken aus Latex und Silikon daraufhin untersucht, wie viel BPA sie abgeben. In 17 von 18 untersuchten Saugern konnte nicht nachgewiesen werden, dass BPA in die Speicheltestlösung übergegangen ist. Lediglich in einer Probe lag der gemessene Wert knapp über der Nachweisgrenze. Die Untersuchungsergebnisse stimmen mit den Messwerten der anderen genannten Labore überein. Der einzige Sauger mit einem messbaren Übergang schöpft die täglich tolerierbare Aufnahmemenge zu einem Prozent aus. Dieses Ergebnis gibt keinen Anlass zu gesundheitlichen Bedenken.

Phthalate


Phthalate werden in großen Mengen, das heißt bis zu 50 Prozent als Weichmacher in Kunststoffen, speziell PVC, eingesetzt. Phthalate können sich aus dem Kunststoff lösen und - wenn es sich dabei um eine Lebensmittelverpackung handelt - in das Lebensmittel übergehen. Es werden unter anderem auch die als für die Fortpflanzung gefährlich eingestuften Phthalate Dibutylphthalat (DBP), Diethylhexylphthalat (DEHP) und Butylbenzylphthalat (BBP) verwendet. Seit einigen Jahren gibt es auf europäischer und nationaler Ebene Regelungen, die den Einsatz dieser Substanzen in Materialien im Kontakt mit fetthaltigen Lebensmitteln untersagen, zum Beispiel in Dichtungen von Twist off-Deckelgläsern. Daher ist davon auszugehen, dass die entsprechenden TDI-Werte für Phthalate eingehalten werden können, wenn man diese Produkte verwendet. Phthalat-Messungen des UBA im Urin von Kindern zeigen aber relativ hohe Werte, die auf weitere Aufnahmewege für Phthalate hindeuten. Als weitere mögliche Quelle der Belastung mit Phthalaten kommt Spielzeug aus PVC in Betracht. Die Verwendung der als gefährlich eingestuften Phthalate für Spielzeug und Babyartikel ist jedoch bereits seit Jahren verboten.

Über die Auswirkungen einer Exposition mit Niedrigdosen von Phthalaten auf den Menschen gibt es bis jetzt noch keine aussagekräftigen Studien. Um das gesundheitliche Risiko der gegenwärtigen Phthalatbelastung für den Menschen genauer charakterisieren zu können, besteht noch Forschungsbedarf. Hierbei spielt vor allem die Frage eine Rolle, ob sich bei Phthalat-Gemischen die einzelnen Stoffe in ihrer Wirkung verstärken. Tierexperimentelle Studien mit einzelnen Phthalaten und mit Gemischen deuten auf eine additive Wirkung bei der Störung der Testosteronbildung bei den Nachkommen der Tiere hin.

Endokrine Disruptoren in Pflanzenschutzmitteln

Pflanzenschutzmittel dürfen nur zugelassen werden, wenn sie bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung keine schädliche Auswirkung auf die menschliche Gesundheit haben. Damit diese Zulassungsvoraussetzung erfüllt werden kann, müssen Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffe umfassend auf mögliche schädliche Wirkungen für die Gesundheit geprüft werden. Nach international akzeptierten Prinzipien der Risikobewertung hat ein Pflanzenschutzmittel keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit, wenn die zu erwartende Belastung des Menschen um mehrere Größenordnungen niedriger liegt als eine Dosis mit möglicher schädlicher Wirkung. Dabei wurden auch bisher schon schädliche Wirkungen auf das Hormonsystem berücksichtigt.

Die ab Juni 2011 gültige neue EU-Verordnung über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (VO (EG) Nr. 1107/2009) sieht vor, dass künftig ein Stoff in Pflanzenschutzmitteln nur dann zugelassen wird, wenn er „…keine endokrinschädlichen Eigenschaften besitzt, die schädliche Auswirkungen auf den Menschen haben können…“. Bisher gibt es allerdings noch kein Konzept, wie diese Regelung bei der Prüfung eines Wirkstoffes angewendet werden kann. Nach einem internationalen Expertenworkshop hat das BfR im vergangenen Jahr Vorschläge für ein solches Bewertungskonzept erarbeitet.

Das Konzept sieht für die Bewertung von Pflanzenschutzmitteln mit möglichen endokrin schädlichen Eigenschaften einen abgestuften Prozess vor. In dessen Verlauf wird das Gefährdungspotential (Hazard) charakterisiert, indem zunächst aus den Daten zum Wirkstoff gesundheitliche Wirkungen identifiziert werden, die möglicherweise durch einen endokrin-schädlichen Mechanismus bedingt sein könnten. In Folgeschritten werden zugrundeliegende toxikologische Mechanismen überprüft und beurteilt, ob diese aus dem Tierversuch auf den Menschen übertragen werden könne. Die anschließende Entscheidung über die Zulassung eines Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffs könnte entweder risikobasiert, das heißt unter Berücksichtigung der Menge, die ein Mensch normalerweise aufnimmt, oder auf der Grundlage des ermittelten Gefährdungspotentials des Stoffes getroffen werden.

Quelle: BfR ^