Zur aktuellen Debatte um wachsende Zahlen von ärztlichen Behandlungsfehlerprozessen

Montag, den 31. August 2009 um 12:50 Uhr Redaktion
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Die Patientinnen und Patienten, die einen möglichen Behandlungsfehler erlitten haben, stehen vor großen Schwierigkeiten, zu ihrem Recht zu kommen, da:

Der vdää und die BAGP schlagen daher vor:
Gleichberechtigte Beteiligung und Mitbestimmung der Patientinnen und Patienten

Oft wird behauptet, die Anbieter im Gesundheitswesen, allen voran Ärztinnen und Ärzte, seien die besten Anwälte ihrer Patientinnen und Patienten. Dies ist ein paternalistischer Irrtum. Die derzeitige Versorgung tendiert vor allem aus wirtschaftlichen Gründen dazu, Abhängigkeiten und Regressionstendenzen zu stärken, statt Selbstbestimmung zu fördern. Die Versicherten bzw. Verbraucher sollten Möglichkeiten erhalten, ihre Interessen selbst bzw. über Ombudspersonen zu vertreten. Zwar sind alle im Gesundheitswesen Tätigen an ethische, rechtliche und fachliche Vorgaben gebunden, dennoch können die Interessen von Anbietern und Patienten nicht überall deckungsgleich sein. Es geht darum, die Divergenz der Interessen zu akzeptieren und sie offen zu legen, sich über sie zu verständigen und in partnerschaftlicher Weise, auf vertraglicher Grundlage ein konstruktives Behandlungs- und Arbeitsbündnis unter Einbeziehung des sozialen Umfelds zu schaffen. In einer säkularen, demokratischen und pluralistischen Gesellschaft sollte "Empowerment" im Sinne der Ottawa-Charta der WHO, die Stärkung der Selbstbestimmung und der Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen, seines Umfeldes und der Gesellschaft als ganzer das entscheidende Kriterium für die Beziehung zwischen Helfenden und Hilfesuchenden werden. Statt "Eigenverantwortung" gleichzusetzen mit Privatisierung von Lebensrisiken, fordern wir für Patientinnen und Patienten neue Formen der Beteiligung und Mitbestimmung, z.B. bei der Qualitätsbeurteilung der von ihnen in Anspruch genommenen Leistungen, bei der Steuerung des Gesundheitswesens (z.B. Stimmrecht zumindest bei Verfahrensfragen für die Patientenvertreter im Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen und in den Landesausschüssen der Ärztekammern; Aufnahme von Patientenvertretern in die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, die "Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Qualitätssicherung in der Medizin" bei der Bundesärztekammer, in die bestehenden Ethik-Kommissionen, in den Ethik-Beirat des Bundesgesundheitsministeriums und in die Zentrale Ethik-Kommission der Bundesärztekammer) und bei der Ahndung von Verstößen, z.B. durch die Berufung medizinischer "Laien" in die Berufsgerichte der Ärzte- und Zahnärztekammern und deren Gutachter- und Schlichtungsstellen.

Patientenschutzgesetzgebung, Stärkung einer unabhängigen Patientenberatung und -vertretung

Es sollte u.a. zusammenfassende Regelungen der Patientenrechte in einem Patienten-Rechte-Gesetz geben, das auch den Schutz nicht-einwilligungsfähiger Patienten umfasst. Die unabhängige Patientenberatung muss gestärkt und regelmäßig gefördert werden. Die Beratung bei Behandlungsfehlern muss dort ein Schwerpunkt werden. Sinnvoll wären darüber hinaus hauptamtliche, qualifizierte Patientenvertrauenspersonen/PatientenfürsprecherInnen in größeren Gesundheitseinrichtungen als Teil des Qualitätsmanagements, die Einrichtung von unabhängigen Patientenbeauftragten auf kommunaler und Landesebene (Wiener Modell) mit bedarfsgerecht ausgebautem Beratungsangebot und einer anbieterunabhängigen Schlichtungsstelle als Alternative zu den Schlichtungsstellen der Ärztekammern. Grundlage sollte eine Patientencharta sein, deren konkrete Umsetzung ein zusammengefasstes Patienten-Rechte-Gesetz auf Bundesebene.

Neuer Umgang mit Behandlungsfehlern, umfassendes Beschwerdemanagement

Die Versicherten - unabhängig davon, ob privat oder gesetzlich versichert - müssen ein gesetzlich verbrieftes Recht erhalten, bei Verdacht auf Behandlungsfehler eine (Rechts-)Beratung ihrer Krankenkasse in Anspruch nehmen zu können. Dies würde den Kassen - sozusagen "nebenbei" - wichtige Hinweise auf Versorgungsdefizite und Kontrollbedarfe geben. Zurzeit zahlen die Krankenkassen (auch die privaten) oft selbst dort noch, wo nachweislich überflüssige, unvollständige oder sogar fehlerhafte Behandlungen vorliegen. Die Kostenträger, auch die Beihilfestellen, sollten gesetzlich verpflichtet werden, Anbieter von Gesundheitsleistungen und Medizinprodukten für Fehler, Mängel und gesundheitsschädigende Folgen ihrer Behandlungen oder Produkte in Regress zu nehmen. Als Voraussetzung wären entsprechende Gewährleistungsklauseln in den bestehenden Gesamtverträgen oder eigene Gewährleistungsverträge z.B. mit Zahnärzten sinnvoll.

Bei medizinischen Behandlungsfehlern sollten Entschädigungen - ähnlich wie in der Unfallversicherung - unabhängig von der Haftung in zivil- oder strafrechtlicher Hinsicht geleistet werden können (z.B. Schmerzensgeld oder Rente). Das Behandlungsfehlerrisiko wiederum sollte auf möglichst viele Schultern verteilt werden, um ausreichend hohe Deckungssummen gewährleisten zu können. Bei kollektiver Schadenshaftung wäre es einem Verursacher z.B. möglich, einen Fehler offen einzuräumen und sogar anzuzeigen. Derzeit ginge damit in der Regel der Versicherungsschutz verloren, da Haftpflichtversicherer bei Selbstbezichtigung meist nicht zahlen. Vorbild können die skandinavischen Länder sein, wo eine verschuldensunabhängige Schadensregulierung seit Jahren mit Erfolg praktiziert wird.

Die im Gesundheitswesen Tätigen haben oft nicht den Mut, einen Behandlungsfehlerverdacht den zuständigen Stellen zu melden. Zu tief sitzt die Angst vor einer Verletzung des Kollegialitätsgebotes oder vor anderen persönlichen Nachteilen. Alle Medizin-"Skandale" der Vergangenheit zeigen, dass viele der im Umfeld Tätigen die Probleme längst erkannt hatten, darüber jedoch nicht zu reden wagten. Ein früheres Durchbrechen des Schweigekartells hätte vielen Patientinnen und Patienten Gesundheit und Leben retten können. Es sollte daher ein gesetzlich und in den Berufsordnungen verankertes Recht geben, bei begründetem Verdacht auf Verstöße gegen die Bestimmungen der Sorgfaltspflicht bzw. der Heilberufs- und Ärztegesetze diese anzuzeigen, wenn vor Ort keine Abhilfe geschaffen werden kann.

Die bisherigen Regelungen zum Entzug bzw. zum Ruhen der Approbation oder Zulassung sollten um die Tatbestände einer Verletzung der Berufspflichten laut Berufsordnung sowie die Tatbestände der unerlaubten Handlung (§ 825 BGB) und der positiven Vertragsverletzung (§ 276 BGB) ergänzt werden.

Schadensersatzforderungen und Behandlungsfehlerprozesse sowie gerichtliche Entscheidungen sollten in Zusammenarbeit mit den Haftpflichtversicherern bundesweit und anonymisiert an neutraler Stelle zentral erfasst werden (z.B. bei den Statistischen Landesämtern). So könnten die Schadensentwicklung, tatsächlich anfallende Fehlerkosten, Einsparpotentiale und Handlungsfelder für Qualitätspolitik und -management besser erkannt werden. Es würde vermutlich auch einer Entlastung der Gerichte bzw. Fachsenate dienen, die sich leichter vernetzen und abstimmen könnten.

Patientenrechte sind Menschenrechte. Ihr Ausbau bedeutet Demokratisierung, Partnerschaft statt professionellen Übergewichts.

Dr. Winfried Beck
(Mitglied des erweiterten Vorstands des vdää)

Peter Friemelt
(BAGP, Gesundheitsladen München)

Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen und -Initiativen BAGP
Waltherstr. 16a
80337 München
Tel. 089-76755522, Fax 089-7250474
www.bagp.de

Quelle: vdää/BAGP