Umwelterkrankungen, Selbsthilfegruppen und Vereine

Montag, den 11. Mai 2009 um 15:50 Uhr Redaktion
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Wie erkenne ich eine seriöse Selbsthilfegruppe oder einen seriösen Verein im Bereich Umwelterkrankungen?  

Immer wieder hört man Klagen über die Machenschaften unseriöser Selbsthilfegruppen, liest Artikel über die zweifelhaften Verquickungen von Pharmaindustrie und Selbsthilfeszene und landet bei so genannten Patientenvertretern, denen Machtkämpfe und Manipulationen wichtiger zu sein scheinen als die Aufklärung der Patienten.


Wir Umweltkranken sind mehr als viele andere auf solche Gruppen angewiesen, weil wir oft genug keine ärztliche Hilfe erhalten und bar jeder sachgerechten Information jahrelang herumfragen und recherchieren müssen, um unsere Erkrankung in den Griff zu bekommen. Selbsthilfegruppen und Vereine, die sich für unsere Belange einsetzen, ermöglichen uns eine schnellere und geballtere Information über neue wissenschaftliche Ergebnisse, sie liefern uns praktischen Rat, einen regen Austausch mit anderen Mitgliedern der Gruppe und eine Patientenvertretung Dritten gegenüber.

Ich bin selber mehr als 8 Jahre in der Selbsthilfeszene im Bereich Umwelterkrankungen aktiv gewesen und habe tiefe Einblicke bekommen - manchmal sogar zu tiefe. Ich verstehe die Verwirrung und Frustration vieler Betroffener nur zu gut. Mein Anliegen war es daher seit Längerem, einigermaßen verlässliche Kriterien zu finden, nach denen man eine gute Gruppe von einer nicht so guten unterscheiden könnte. Folgende Kriterien habe ich gewählt:

Anzahl der Mitglieder

Das erste Kriterium - die Anzahl der Mitglieder - kann ein sehr trügerisches sein! Denn einige Gruppen in unserem Feld fälschen - Erkenntnissen aus guten Quellen und eigenen Beobachtungen zu Folge - augenscheinlich die Mitgliederzahlen erheblich, um als größte Gruppe dazustehen. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern leider weltweit! Während in einigen Gruppen Betroffene ohne ihr Wissen als Mitglieder oder Regionalvertreter geführt werden, werden in anderen die Homepagehits oder die Anzahl der Forenbeiträge kräftig geschönt, um den Eindruck großer Frequentierung und lebendiger Teilnahme zu erzeugen. Man darf annehmen, dass auch die Informationen, die man aus solchen Gruppen bekommt, manipulativ, übertrieben oder unwahr sind. Solche Gruppen disqualifizieren sich durch ihr Handeln als unseriös.

Eine seriöse Selbsthilfe-Gruppe hat es nicht nötig, irgendetwas vorzutäuschen, sie arbeitet stets mit ehrlichen und durchschaubaren Mitteln und zum Wohl des Patienten. Die Zahl der Mitglieder wird durch einsehbare Mitgliederlisten dokumentiert, Karteileichen dabei als solche gekennzeichnet. Der Zähler auf der Homepage wird nicht manipuliert, die Mitgliederzahl und die Zahl der Einträge in Foren oder Blogs nicht durch Phantommitglieder geschönt.

Anzahl und Qualität der Angebote

Die Anzahl und Qualität der Angebote kann in den verschiedenen Gruppen sehr unterschiedlich sein. Man muss sich klar machen, dass die meiste Arbeit ehrenamtlich geleistet wird und finanzielle Belastungen getragen werden müssen. Nicht jeder Gruppe stehen ausreichende Ressourcen zur Verfügung, um im gewünschten Umfang das zu leisten, was auf ihren Fahnen steht. Andererseits haben manche Gruppen sehr viel Geld aus verschiedensten Quellen zur Verfügung und glänzen daher mit guten Internetauftritten, teuren Anzeigen und entsprechend viel Zulauf. Dies allein macht sie aber nicht unbedingt zu einer empfehlenswerten Gruppe!

Grundsätzlich sollte eine Selbsthilfegruppe oder ein Informationsnetzwerk jedem Zutritt erlauben und rein sachlich informieren. Jede Form der Hetze, die Ausgrenzung von Kritikern, der Hang zu Übertreibung, Panikmache oder Polemik entblößt andere Interessen! So mancher Gruppenleiter missbraucht seinen Einfluss auf Mitglieder, um selbst als DER Star der Szene dazustehen. Wenn es darum geht, in der Presse zitiert zu werden, drängen sich solche Leute stets ins Rampenlicht. Auch dies gilt in allen Ländern, die über Selbsthilfegruppen im Bereich der Umwelterkrankungen verfügen. Eine gute Gruppe bietet eventuell einen Newsletter und Infomaterial für die Mitglieder, einen Werbeflyer, der Grundsätzliches zur Erkrankung und Ausrichtung des Vereins klarstellt; es werden möglicherweise Telefonsprechstunden, schriftliche Konsultationen, Foren und Ärztelisten, sowie jede erdenkliche Form der Hilfe, die sinnvoll ist, angeboten. Was einen zweifeln lassen sollte ist, wenn direkt oder indirekt geschäftliche Interessen mit der Beratung verbunden werden oder wenn der Starstatus einer leitenden Person unübersehbar ist.

Klar sein muss generell, dass Ihnen keine wie auch immer geartete Gruppe die Arbeit am Ich und das Herausfinden ihres eigenen Weges zur Stabilisierung oder Gesundung abnehmen kann. Es sollte keine Abhängigkeit erzeugt werden, sondern Sie sollten ausreichend Hilfe zur Selbsthilfe erlangen, damit sie später wieder alleine zurecht kommen können. Zudem sollten Sie in einem geschützten Rahmen über Ihre Krankheit und alle daraus resultierenden Probleme sprechen können, wenn Sie dieses wünschen.

Eine Gruppe, die zu Ihrer Autonomie und Eigenständigkeit beiträgt, ist eine seriöse Gruppe. Eine, die sie seelisch oder auf andere Weise abhängig macht, die Sie manipuliert, an ihr Geld will, Sie auf irgend eine Weise vereinnahmt oder auf eine Philosophie einschwört bzw. gegen andere Gruppen oder Aktivisten aufhetzt, ist nicht wirklich eine empfehlenswerte Gruppe.

Wissenschaftlicher Beirat oder Diskurs mit Wissenschaftlern

Das Vorhandensein eines wissenschaftlichen Beirates mag von vielen als ein wichtiges Kriterium angesehen werden, die Seriösität einer Gruppe zu markieren. Verfolgt dieser Beirat aber eigene Interessen oder erscheint als ein Schattenkabinett großer Namen, ohne jedoch inhaltlich glaubwürdig zu Gunsten der Betroffenen zu agieren, sind Zweifel angebracht.

Grundsätzlich ist ein wissenschaftlicher Beirat hilfreich und sinnvoll, aber nicht unbedingt notwendig. Eine Gruppe kann auch auf anderem Wege einen lebendigen Diskurs mit wissenschaftlichen Stellen und Quellen pflegen. Ein wissenschaftlicher Beirat kennzeichnet eine Gruppe meist als größere Organisation. Aber auch eine unseriös agierende Gruppe kann über einen Beirat verfügen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wer im Beirat sitzt, wie er nach außen hin agiert, welche Politik er unterstützt und auf wessen Initiative hin man überhaupt in den Beirat gewählt wurde. Zuweilen wissen die Beiratsmitglieder überhaupt nicht, dass sie immer noch auf einer Homepage als Beiratsmitglied genannt werden, obwohl sie seit Jahren den Kontakt zu dem Verein abgebrochen haben. Zumindest ein derartiger Fall ist mir 2005 bekannt geworden!

Ein wissenschaftlicher Beirat kann grundsätzlich auch im eigenen Interesse handeln, manipulativ sein oder die Interessen der Pharmaindustrie oder anderer Interessengruppen verfolgen, statt die Rechte der Patienten zu vertreten. Hier sollte man also genauer hinsehen. Wenn der wissenschaftliche Beirat praktisch nie durch seine Arbeitsergebnisse oder seinen Einsatz für die Betroffenen in Erscheinung tritt, sind Zweifel angebracht.

Eine gute Gruppe erkennt man an einem seriös agierenden wissenschaftlichen Beirat bzw. am Vorhandensein eines sachlichen Diskurses mit den führenden Wissenschaftlern des Faches. Als unseriös muss gelten, wer sich ausschließlich auf zweifelhafte Quellen oder eigene Erkenntnisse und Behauptungen bezieht, die sich nicht nachweisen lassen oder wer wissenschaftliche Informationen dazu benutzt, Betroffene und Medien zu manipulieren, Panikmache zu betreiben oder zu erscheinen, als sei man die einzige legitimierte Wissensquelle. Zweifelhaft ist außerdem, wenn alte Untersuchungsergebnisse aus den USA oder anderen Ländern als aktuelle Forschungsergebnisse ausgegeben werden, nachdem sie übersetzt wurden.

Haltung gegenüber anderen Gruppen und Kritikfähigkeit

Wer längere Zeit die MCS-Szene beobachtet, merkt früher oder später, dass teils heftige, polemische oder ungerechtfertigte Kritik an Einzelpersonen oder Gruppenleitern Gang und Gäbe ist und dass die Leistungen einer Gruppe oder Einzelperson nicht gewürdigt oder gar in den Dreck gezogen werden. Zuweilen kommt es einem so vor, als ziehen nicht alle Gruppen an einem Strang und verfolgen dieselben Interesse, sondern als ginge es darum, sich gegenseitig zu diskreditieren und aus dem Weg zu räumen. Inwieweit es hier um unsaubere Machtkämpfe, eine Verwicklung in zweifelhafte Interessenlagen oder gar handfeste wirtschaftliche Interessen geht, soll nicht Gegenstand der Diskussion sein. Fakt ist: wenn alle Gruppen an einem Strang zögen und sich zu einem selbst auf die Beine gestellten Dachverband unter Führung der besten Streiter aus der Szene vereinigen würden, sähe die mögliche Einflussnahme zu Gunsten der Betroffenen anders aus!

Die Kritik einzelner Gruppen an anderen scheint oft nicht der Qualitätsverbesserung zu dienen, sondern der Einschüchterung und Behinderung. Zugleich wird deutlich, dass man genau jene Gruppen nie kritisieren darf, die es an Angriffen und Verleumdungen anderen gegenüber nie fehlen lassen! Zudem werden Personen, die aus berechtigten Gründen unseriöse Praktiken kritisieren, oft heftig attackiert, aus Foren ausgeschlossen und intern als Verräter oder Lügner gebrandmarkt. Auch dies ist ein internationales Phänomen. Gesunde Kritikfähigkeit und ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung sind Komponenten eines lebendigen Miteinanders. Kritik sollte immer dabei sachlich und inhaltlich bezogen angebracht werden, niemals auf die Person oder Gruppe selbst zielend. Es finden sich bei näherem Hinsehen durchaus bundesdeutsche Aktivisten und Gruppen, die in engem Kontakt miteinander stehen und sich gegenseitig mit Rat, inhaltlicher Auseinandersetzung und offener Kritik unterstützen. Kritikfähigkeit geht hier grundsätzlich einher mit der uneingeschränkten Anerkennung dessen, was vom anderen geleistet wird! Seriöse Kritik dient der Sache und den Interessen der Betroffenen - niemals dem Eigennutz.

Eine seriöse Gruppe erkennt man daran, dass sie im kritischen Diskurs mit anderen Gruppen und Aktivisten steht und einen lebendigen Austausch fördert. Eine nicht empfehlenswerte Gruppe stilisiert sich häufig zur besten, größten oder wichtigsten Gruppe überhaupt und überzieht alle anderen mit unsachlicher und ungerechtfertigter Kritik, behindernden Aktionen oder Diffamierungen, die oft hinter dem Rücken und in Unkenntnis der Betroffenen, beispielsweise in Blogs und Foren stattfinden.

Inhaltliche Ausrichtung und Informationspolitik

Die hauptsächliche inhaltliche Ausrichtung einer seriösen Selbsthilfegruppe im Bereich Umwelterkrankungen sollte darauf gerichtet sein, den Betroffenen mit Rat und Tat beiseite zu stehen. Inhalt der Arbeit ist daher, seriöse Informationen zu sammeln, mit den wichtigen Patientenvertretern zu diskutieren, die Bevölkerung über die Problematik zu informieren und entsprechende Pressearbeit zu leisten, Petitionen einzureichen, hilfreiche Materialien zur Verfügung zu stellen, juristische, medizinische oder andere Hilfestellungen zu leisten, einen Austausch unter den Mitgliedern zu fördern, um sie durch all dies wehrhafter zu machen.

Informationen, die den Betroffenen dienen, werden in seriösen Gruppen möglichst umfassend und zeitnah weitergegeben. Ob dies nun durch einen Newsletter, ein Forum, einen Blog oder regelmäßige Rundbriefe geschieht, ist nebensächlich. Ideal ist es, wenn die Informationen im Original oder in einer sachgerechten Übersetzung vorliegen und die Quellen benennen, wenn sie den neusten Stand der Forschung repräsentieren und wenn sie gegebenenfalls kritisch kommentiert werden, so wie dies beispielsweise Ingrid Scherrmann in ihrem Safer World Newsletter tut.

Dass eine oft widersprüchliche und kaum zu bewältigende Informationsflut aus internationalen Quellen in verschiedenen Foren kursiert, ist vielen Betroffenen bekannt. Nicht jeder aber verfügt über die medizinischen oder sprachlichen Kenntnisse, um sich diese Quellen verfügbar zu machen. Gruppen und Aktivisten sollten also gegebenenfalls die Relevanz von Informationen für bundesdeutsche Zustände oder den direkten Patientennutzen prüfen, um die Informationsflut zu filtern. Unseriöse Gruppen beziehen sich aus Manipulationsgründen gerne oder ausschließlich auf persönliche Meinungen, alte Quellen, Statements ohne Quellenangabe oder zweifelhafte Quellen industrienaher Autoren.

Eine seriöse Gruppe erkennt man daran, dass sie eine klare inhaltliche Ausrichtung hat, die Quelle des Originaltextes und dessen Veröffentlichungsdatum immer angibt und sich ausschließlich auf neuere, fundierte, wissenschaftlich anerkannte Ergebnisse bezieht. Diese werden möglichst zeitnah und ohne manipulative Kommentierung mitgeteilt. Eine kritische Kommentierung ist sinnvoll, wo sie nötig erscheint.

Beteiligung und Behandlung der Mitglieder

In einer seriösen Gruppe haben alle Mitglieder ein Beitragsrecht; das heißt, auch sie können auf Artikel und Veröffentlichungen sowie eigene Erfahrungen hinweisen oder Diskussionen anregen. Wo die Mitglieder einer Gruppe grundsätzlich nicht beteiligt werden oder als dumme Schafe gelten, sind Zweifel an deren Seriosität angebracht!

Grundsätzlich sollte es Ziel einer seriösen Selbsthilfegruppe sein, den Einzelnen aktiv einzubeziehen und durch seinen persönlichen Einsatz wehrhafter gegenüber jenen zu machen, die ihm den Alltag schwer machen. Dabei ist klar, dass der eine über mehr Wissen und Erfahrung verfügen kann als ein anderer, dessen Erkrankung gerade erst diagnostiziert wurde - dennoch kann sich daraus keine unterschiedliche Grundwertigkeit und Wichtigkeit eines Mitglieds ergeben. Grundsätzlich haben alle Mitglieder einer seriösen Gruppe dieselben Rechte. Wo sich ein verschworener Klan oder "Inner Circle" wichtiger Einflussnehmer und Manipulatoren - ja geradezu Gurus - herausbildet, geschieht oft wenig seriöses. Niemand ist im Besitz alleinigen Wissens, niemand sollte im alleinigen Besitz von wichtigen Informationen sein, die andere benötigen, um ihre Erkrankung besser zu handhaben.

Seriöse Gruppen verstehen sich als Vermittler und Wissenspool nach dem Grundsatz Gleicher unter Gleichen, nicht als Hierarchie Wissender und Nicht-Wissender mit dem Zweck der Dominanz der einen über die anderen. In seriösen Gruppen gibt es weder ein Wissens- noch ein Meinungsmonopol, es werden grundsätzlich keine Interessenten ausgegrenzt oder aus Foren geschmissen. Das recht auf freie Meinungsäußerung steht im Grundgesetz - wenn es Ihnen in einem Blog oder forum nicht gewährt wird, wenn Ihre Beiträge gelöscht oder redigiert werden, obwohl sie sachlich sind, sind Zweifel an der Seriösität der Gruppe angebracht.

Ich hoffe, auf diesem Wege etwas mehr Klarheit in die Sache gebracht zu haben. Für anregende und kritische Kommentare danke ich vielen zahlreichen Betroffenen und Leitern von Gruppen in der MCS-Szene.

Moon McNeill, Mai 2009